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Oberurseler Hefte Ergänzungsbände

Herausgegeben von Werner Klän im Auftrag der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel

Band 8

Robert Kolb

Die Konkordienformel

Eine Einführung in ihre Geschichte und Theologie

Übersetzt aus dem Amerikanischen von Marianne Mühlenberg

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Der Text des Hauptteils soll in englischer Sprache erscheinen in Charles P. Arand/James A. Nestingen/Robert Kolb, Historical Introduction to the Lutheran Confessions, Vol. 1. Augsburg Fortress Publishers, Minneapolis/U.S.A.
© Edition Ruprecht Inh. Dr. R. Ruprecht e.K., Postfach 17 16, 37007 Göttingen – 2011 www.edition-ruprecht.de

Inhaltsverzeichnis

 

Thomas Kaufmann: Zur Einführung

 

Bekennen und Bekenntnis im Luthertum des 16. Jahrhundert

 

Konkordienformel: Ihr Sitz im Leben in der Spätreformation

 

„Spätreformation“ und „Konfessionalisierung“: Prozess und Epoche aus Sicht der Forschung

 

Polemik als theologische Methode

I.

Die theologischen Spannungen unter Luthers Anhängern vor seinem Tod.

 

Luthers Paradigmenwechsel und die Bemühungen seiner Schüler, dies zu definieren

 

Johann Agricola und Philipp Melanchthon zur Rolle des Gesetzes im Leben des Christen

 

Conrad Cordatus und Caspar Cruciger zur Bedeutung der Reue für die Seligkeit

 

Nikolaus von Amsdorf und Philipp Melanchthon:
Meinungsverschiedenheit unter Freunden.

II.

Schmalkaldischer Krieg, Interim und Adiaphorakontroverse – Schauplätze einer Streitkultur

 

Karl V. und die Bedrohung für Luthers Reformation

 

Der Schmalkaldische Krieg und der Versuch, die Lutheraner zu beseitigen

 

Der Augsburger Religionsfriede

 

Confessio Augustana Variata

 

Das Augsburger Interim

 

Der Leipziger „Vermittlungsvorschlag“ bzw. das Leipziger Interim

 

Reaktionen auf den Leipziger Landtagsentwurf

 

Die Konkordienformel als Lösung

 

Gnesiolutheraner und Philippisten: die Parteien der Wittenberger Spätreformation

III.

Die Majoristenkontroverse und der Antinomistenstreit

 

Georg Major und die Notwendigkeit der guten Werke zur Seligkeit.

 

Die Konkordienformel und die guten Werke.

 

Die Eisenacher Synode und die abstrakte und theoretische Notwendigkeit guter Werke für die Seligkeit

 

Gnesiolutherische Streitgespräche über das Gesetz im Leben des Christen

 

Notwendigkeit gegenüber Spontaneität im christlichen Leben: Andreas Musculus und Abdias Praetorius

 

Die Kontroverse über Melanchthons Definition von Buße und Evangelium

 

Die Konkordienformel zu Gesetz und Evangelium und zum Tertius usus legis

IV.

Der synergistische Streit – Die Kontroverse über die Erbsünde und die Erwählungslehre in der Spätreformation

 

Ausbruch des Streits: Amsdorf und Pfeffinger zur Bedeutung des Willens in der Bekehrung

 

Nikolaus Gallus’ Kritik an Melanchthon

 

Viktorin Strigel und der Modus agendi des Menschen

 

Von der Willensfreiheit zur Erbsünde als ‚forma substantialis‘ des gefallenen Menschen

 

Die Lösung in der Konkordienformel

 

Die Erwählungslehre

 

Die Lösung in der Konkordienformel

V.

Der Osiandrische Streit über die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt

 

Wetterleuchten aufkommenden Streites: Osiander in Preußen

 

Das Stancarische Intermezzo

 

Anhaltende Kritik an Osianders Rechtfertigungslehre

 

Die Lösung in der Konkordienformel.

VI.

Streit um Abendmahl und Christologie

 

Zu den Hintergründen in den ersten Jahrzehnten der Reformation

 

Der Streit zwischen Joachim Westphal und Calvin

 

Der Streit zwischen Johann Timann und Albert von Hardenberg

 

Das Vordringen des Calvinismus in der Pfalz

 

Die Kryptophilippisten in Sachsen

 

Abendmahl und Christologie in der Konkordienformel

 

Die Höllenfahrt

VII.

Einigungsversuche

 

Fürsten und Theologen ringen um Einheit, 1553–1569

 

Sammlung konfessioneller Dokumente: die Corpora Doctrinae

 

Das Altenburger Kolloquium

VIII.

Jakob Andreaes Vorstoß zu lutherischer Einheit – Die Abfassung der Konkordienformel und des Konkordienbuchs

 

Andreaes erster Vorstoß in Richtung Einigkeit, 1568–1570

 

Andreaes zweiter Versuch zur Herstellung von Eintracht

 

Und auch die Schwärmer

 

Die Schwäbisch-Sächsische Konkordie und die Maulbronner Formel

 

Ein neuer kursächsischer Anstoß zu lutherischer Eintracht

 

Zum Corpus Doctrinae

 

Unterzeichnung der Konkordienformel

IX.

Reaktionen auf die Konkordienformel in den 1580er Jahren

 

Postscriptum

 

Literaturverzeichnis

 

Anhang

Zur Einführung

Die in der Konkordienformel kodifizierte lutherische Theologie des konfessionellen Zeitalters stand in der protestantischen Kirchen- und Theologiegeschichte lange Zeit am Rande des wissenschaftlichen Interesses. Dies war nicht zuletzt Urteilen geschuldet, mit denen „die Orthodoxie“ seit dem späten 17. Jahrhundert von Theologen unterschiedlicher Richtungen bedacht worden war: Pietisten monierten, dass dem Eifer für die wahre, zumeist mit Mitteln scharfer Polemik verfochtene „Lehre“ kein entsprechender Einsatz für das „Leben“, für die Gestaltung der Frömmigkeit und der Gemeinschaft, entsprochen habe und dass sich die Orthodoxen vornehmlich auf die ‚öffentliche Religion‘ im konfessionell einheitlichen Territorialstaat bezogen, aber der persönlichen Lebensführung des verbindlich frommen Subjektes nicht die gebührende Aufmerksamkeit schenkten. Die Aufklärer distanzierten sich im Namen der „vernünftigen Religion“ davon, dass die Orthodoxen dem Dogma der Verbalinspiration huldigten, partikulare Glaubenswahrheiten hypostasierten bzw. als heilsentscheidend behaupteten und die Abgrenzung von den innerprotestantischen Kontrahenten überstrapazierten. Sie drangen darauf, auch die kanonischen Urkunden des christlichen Glaubens historisch-kritisch zu verstehen und deren Geltungsansprüche in einer mit dem Selbst- und Weltverständnis des modernen Menschen vereinbaren Form zu kommunizieren. Für die Normativität eines historischen Lehrbekenntnisses ließ dies wenig Raum. Auf dieser Traditionslinie fortschreitend insistierten schließlich die liberalen Neuprotestanten des 19. Jahrhunderts darauf, die Dokumente der „altprotestantischen“ Tradition als nicht per se gültige Wahrheitsmanifestationen anzuerkennen sondern hinsichtlich ihres dem frommen Selbstbewusstsein plausiblen religiösen Gehaltes zu sichten und zu interpretieren. Pietisten, Aufklärern und Neuprotestanten war gemein, dass sie eher bei den Reformatoren – allen voran Luther – als bei seinen orthodoxen „Erben“ Ansätze für eine gegenwartsverantwortete Theologie zu finden meinten.

Auch die für die theologiegeschichtliche Entwicklung des 20. Jahrhunderts in mancher Hinsicht wichtig gewordene „Lutherrenaissance“ stand aufs Ganze gesehen in dieser Wertungstradition und verhielt sich gegenüber der als sklerotisiert geltenden Theologie des konfessionellen Zeitalters ausgesprochen spröde. Selbst da, wo man die in der Konkordienformel und in den orthodoxen Lehrsystemen thesaurierte theologische Gelehrsamkeit immer wieder einmal als Ausdruck achtunggebietender intellektueller Konsequenz bewunderte, widersetzte man sich dem Anspruch, dass sie die maßgebliche Normgestalt lutherischer Theologie enthielten. Der im Anschluss an die Konkordienformel gegebene Hinweis darauf, die Bekenntnisse seien im Vergleich zur Schrift als normierender Norm (norma normans) lediglich von abgeleiteter Bedeutung, nämlich „normierte Norm“ (norma normata), diente mit Vorliebe dazu, sich von ihnen zu distanzieren. Erst mit der an den Bekenntnisbegriff des Neukonfessionalismus anknüpfenden Dialektischen Theologie begann sich dies in gewissem Sinne zu ändern. Die pogrammatischen Abgrenzungen von den neuzeitlichen Transformationsgestalten des Protestantismus, die man hier inszenierte, schienen einen unmittelbareren Zugang zum „Altprotestantismus“ in seiner reformatorischen wie in seiner orthodoxen Gestalt nahezulegen und die Chance zu eröffnen, den vollen Sachgehalt der wahren Lehre jenseits ihrer historisierenden und relativierenden ‚Schwundformen‘ kennenzulernen. Ob aber der mit dem Schlagwort der „reformatorischen Theologie“ dann auf breiter Front und mit nachhaltigem Erfolg propagierte, tendenziell repristinative Gestus im ganzen mehr ist oder war als das Selbstmissverständnis einer gerade in ihren neuzeitkritischen Abwehrreflexen dezidiert neuzeitlichen Theologie, mag die weitere Theologiegeschichtsschreibung erweisen.

Eine andere Rezeptionsgeschichte der lutherischen Theologie des konfessionellen Zeitalters als die skizzierte, für den Hauptstrang des deutschen Protestantismus symptomatische, vollzog sich in seinen neokonfessionellen, ins „Freikirchliche“ tendierenden oder diesem zugehörenden Kontexten und Milieus. Bei den Altlutheranern etwa, auch in der US-amerikanischen „Lutheran Church – Missouri Synod“, suchte man das Gespräch mit den klassischen Bekenntnistexten und Lehrsystemen der lutherischen Tradition in einer Intensität und Direktheit, für die sich in der akademischen Universitätstheologie des deutschen Protestantismus des 19. und 20. Jahrhunderts nicht sehr viele Parallelen oder Analogien finden lassen. Das neokonfessionalistische Luthertum in der Vielgestaltigkeit seiner nationalen und institutionellen Formen wurde zu einem wichtigen Tradenten und Interpreten der „klassischen“ altprotestantischen Texte und Traditionsbestände und ist es bis heute geblieben.

Der Verfasser des vorliegenden Buches, Robert Kolb, emeritierter Professor für Systematische Theologie und Direktor des Institute for Mission Studies am Concordia Seminary in St. Louis, Missouri, steht in der spezifisch nordamerikanischen Tradition eines entschiedenen Luthertums, das den Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts eine wichtige Orientierungsfunktion auch für die gegenwärtige theologische Urteilsbildung zuerkennt. Kolb kann als heute wohl bester Kenner der lutherischen Theologiegeschichte des konfessionellen Zeitalters in der englischsprachigen Welt gelten; sein literarisches Oeuvre ist so umfänglich, weit verstreut und reichhaltig, dass es auch kundigeren Forschern gelegentlich unterlaufen kann, die eine oder andere seiner Studien zu übersehen. Hinsichtlich des intellektuellen Profils freilich weist sein Oeuvre ein hohes Maß an Kohärenz, ja Homogenität auf. Auch in dem vorliegenden Werk sind einige der dafür charakteristischen Aspekte unübersehbar.

Für Kolb stellt sich die Entwicklung, die das Luthertum zwischen Luthers Tod und dem Abschluss der Konkordienformel nahm, als ein primär theologischer Vorgang dar. Nicht etwa die konfliktreichen Beziehungen zwischen den politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen „Sphären“, nicht die Konkurrenzen unterschiedlicher Stadt- und Territorialstaaten, nicht die Interessen weltlicher Obrigkeiten, die ihrer Verantwortung anvertrauten Gemeinwesen auch mit religiösen und disziplinatorischen Mitteln zu integrieren, nicht die kompetitiven Beziehungen zwischen unterschiedlichen Universitäten, „Netzwerken“ und „Wahrheitskartellen“, sondern die theologischen Sachfragen stehen für Robert Kolb vor allem anderen im Zentrum seines Bildes der theologischen Auseinandersetzungen zwischen 1546 und 1577/80. Zugleich verwendet er große Mühe darauf, die extensive lutherische Streitkultur eng an die Debatten der Reformatorengeneration heranzurücken. Der bei anderen Forschern zur Bezeichnung der Kirchen- und Theologiegeschichte vor allem der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts inzwischen aus der Mode gekommene Begriff der „Spätreformation“ ist deshalb durchaus programmatisch zu verstehen: Für Kolb geht die Reformation in den Klärungsdebatten der interimistischen, adiaphoristischen, synergistischen, antinomistischen etc. Auseinandersetzungen gewissermaßen weiter, ja vollendet hier ihren dogmatischen Gehalt. Im Kampf der Magdeburger gegen das Interim ein „Ende der Reformation“ zu sehen, weil die dortigen Akteure die Reformation „am Ende“ sahen und gerade im Bewusstsein dieses „Endes“ deren Reinszenierung ins Werk zu setzen suchten, geht nach Kolb nicht an; für ihn rundet sich die vera doctrina der Reformation erst in der Konkordienformel zu einem Ganzen.

Durch Impulse der Geschichtswissenschaft hat die Erforschung der „Konfessionalisierung“ in den letzten drei Jahrzehnten einen bemerkenswerten Aufschwung genommen. Das zentrale Anliegen dieses gesellschaftsgeschichtlichen Interpretaments und seines wichtigsten Protagonisten, des Frühneuzeithistorikers Heinz Schilling, besteht darin, den unauflösbar engen Zusammenhang herauszuarbeiten, der zwischen der Formierung der frühneuzeitlichen Konfessionen und den territorialen Staatsbildungsprozessen bestand. Im Zuge der Konfessionalisierungsforschung gerieten die drei frühneuzeitlichen Konfessionen also gleichsam als funktionale Momente eines kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen Fundamentalvorgangs in den Blick, kaum jedoch als Entitäten, die um die theologische Wahrheit rangen und diese explizierten. An dieser Stelle setzen die Einwände Kolbs ein: Er versteht die theologischen Debatten des Luthertums gerade nicht als Elemente einer gesellschafts- und kulturgeschichtlichen Formierungsproblematik, sondern genau als das, was sie im Sinne ihrer Protagonisten zu sein beanspruchen, nämlich als Streit um eine theologische Wahrheit, der nachzudenken auch heute für lutherische Theologen als unveräußerliche Pflicht und reicher intellektueller Gewinn zu gelten hat. Kolb geht es also nicht primär um die zeitgenössische Gesellschaft und Kultur und die Frage der Rolle des Bekenntnisses in diesen Kontexten, sondern um die Kirche und die ihr eigene Kultur, die „Lutheran Ecclesiastical Culture“. Insofern markiert sein auch in diesem Buch deutlich werdender Zugang zum konfessionellen Zeitalter eine klare kirchen- und theologiegeschichtliche Alternative zur Konfessionalisierungsforschung in ihren unterschiedlichen allgemein- und kirchenhistorischen Ausprägungen.

Das „Bekenntnis“ ist für Kolb der organisierende Mittelpunkt des Luthertums, das er primär als theologiegeschichtliche Größe sui generis versteht, nicht als spezifische Gestalt eines frühneuzeitlichen Protestantismus. Die reichspolitischen Aspekte des Bekenntnisses sind natürlich auch ihm nicht verborgen; dass die reichsreligionsrechtliche Bedeutung, die der Confessio Augustana seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 zukam, auch für die Interpretation der Konkordienformel als Auslegung der CA im Horizont der binnenlutherisch strittigen Differenzen maßgeblich sein könnte, betonen allerdings andere Interpreten ungleich stärker als er.

In Kolbs Sicht kommt dem Abschluss des Bekenntnisbildungsprozesses in der Konkordienformel eine epochale Qualität zu. Dass die Konkordienformel freilich auch unter den sich in der Nachfolge des Wittenberger Reformators sehenden Reichsständen keineswegs unumstritten war und dass auch nach ihrem Abschluss im Luthertum heftig, nun freilich auf der Basis der in der FC gefundenen Kompromisse, weitergestritten wurde, ja die lutherische die ruheloseste Konfession im Alten Reich blieb, bleibt demgegenüber im Hintergrund. Die konfessionsinternen Pluralisierungsprozesse einer „lutherischen Konfessionskultur“, die auf unterschiedlichen Wegen in die Neuzeit zu finden vermochte, sind Kolbs Sache nicht.

Das vorliegende Buch spiegelt die jahrzehntelange Forschungsarbeit eines renommierten Kollegen; es erschließt die lutherische Theologie der Konkordienformel in sehr profilierter Manier. Kolbs Sicht der Dinge ist kohärent, niveauvoll und anregend; alternativlos ist sie nicht.

Göttingen, im März 2011                                                    Thomas Kaufmann

Bekennen und Bekenntnis im Luthertum des 16. Jahrhundert

Die Konkordienformel steht am Ende des ersten halben Jahrhunderts lutherischer Geschichte, in dem sich die Wittenberger Reformation in institutioneller wie auch in theologischer Hinsicht im kirchlichen Leben konsolidierte. Mit ihr kommt eine ganze Reihe von Dokumenten zum Abschluss, die dann die Bezeichnung „Bekenntnisschriften“ erhalten sollten. 1580 wurden sie im Konkordienbuch zusammengefasst als die öffentlich gültige Lehre, als die Richtschnur zum Verständnis des Luthertums. Die Kirche durch ein in einer Bekenntnisschrift niedergelegtes Glaubensbekenntnis zu definieren ist vielleicht erstaunlicher, als das für die meisten Leser auf den ersten Blick erscheinen mag. Das öffentliche Bekenntnis dessen, was man für die Wahrheit, die grundlegende Beschreibung der Wirklichkeit hält, ist sicher jedem einzelnen wichtig. Aber nicht jeder definiert seinen religiösen Glauben in der Form einer Lehraussage. Die universale Erfahrung des Menschen, dass er Teil eines umfassenden Großen und Ganzen ist – „Religion“ –, äußert sich auf unterschiedliche Weise, in einem Gefühl von Ehrfurcht und Frömmigkeit im Gegenüber zu einem Letzten und Absoluten, von den Menschen in ihrer Verschiedenheit unterschiedlich definiert. Diese Ausdrucksformen verbinden die Anhänger bzw. Angehörigen der einzelnen Systeme miteinander. Die Lutheraner definieren ihr Verständnis der Wirklichkeit, anders als viele andere, durch das öffentliche Bekenntnis ihres Glaubens an Jesus Christus. Bei den Christen wird zudem das, worauf sich ihre Religion gründet, oft als „Glaubenssystem“ bezeichnen.

Religionsgeschichtler weisen darauf hin, dass sich in allen Religionen – in allen Systemen zur Beschreibung der letzten Realität und zur Anleitung des Menschen zu einem dieser Realität entsprechendem „guten“ Leben – die gleichen Grundelemente finden. Ninian Smart benennt sechs: 1) Lehre, 2) Erzählung, 3) Ritual, 4) Ethik, 5) Gemeinschaft und 6) persönlicher Glaube bzw. Ehrfurcht und Frömmigkeit, wodurch die ersten fünf Elemente zusammen gehalten werden.1 Während sich in einem ideologischen System jedes dieser Elemente in irgendeiner Form wiederfindet, so sind sie in den verschiedenen Religionen in unterschiedlicher Weise kombiniert, wodurch der gesamte Vorgang der Realitätsbeschreibung von einem je eigenen Ausgangspunkt ausgeht. Alle Christen praktizieren ihren Glauben unter Einbeziehung all dieser Elemente, aber in den verschiedenen christlichen Traditionen erhalten verschiedene Elemente einen unterschiedlichen Stellenwert in der jeweiligen Glaubenspraxis. So unterscheidet sich der zentrale Orientierungspunkt für das Lebens wie auch für Wesen und Sinn der Kirche – der die anderen Elemente einund anordnenden Autorität – von einer Gruppe zur anderen.

Bei den Gläubigen der orthodoxen Kirchen des Ostens ist das liturgische Ritual prägend für ihre Frömmigkeit; für die Anglikaner ist es das Book of Common Prayer, wodurch das Leben der Kirche in entscheidender Weise seine Gestalt erhält. Bei Orthodoxen wie Anglikanern beruht der Zusammenhalt der Kirche auf dem Bischofsamt. Während die römisch-katholischen Christen durch gemeinsame Liturgie und Lehre verbunden sind, so ist doch der Stellvertretungsanspruch des Bischofs von Rom, der die ecclesia militans an Christi Statt regiert, der Faktor, durch den die Kirche sich als Kirche Christi erweist. Bei den übrigen englischen Protestanten waren die Formen der Gemeinschaft von besonderer Bedeutung, indem Kirchen sich im Gegensatz zur etablierten anglikanischen „bischöflichen“ Form als presbyterianisch und kongregationalistisch bezeichneten. Die Baptisten betonen ihre Identität anhand einer ganz bestimmten, besonderen Lehre und der damit verbundenen Praxis. Reformierte und lutherische Gläubige definieren sich durch einen umfassenden oder doppelten Fokus auf christliches Lehren und das Auslegen der biblischen Erzählung. Hierzu verfassten die Lutheraner in dem halben Jahrhundert nach 1530 Dokumente, die sie als „Bekenntnisschriften“ bezeichneten.

1530 forderte Kaiser Karl V. die deutschen Fürsten, die auf Martin Luther und seine Wittenberger Kollegen zurückgehende Reformen in ihren Territorien und Städten einführen wollten, zu einer Erklärung ihres religiösen Vorgehens auf. Der Kaiser wollte von ihnen hören, warum ihr Widerspruch gegen die obrigkeitliche Herrschaft Roms nicht unrechtmäßig sei. Der führende Theologe in der diplomatischen Abordnung, die die evangelischen Fürsten zusammengestellt hatten, war Philipp Melanchthon. Ebenso wie Luther glaubte auch er, dass Gott sich seiner Welt, und im besonderen der Sünder, die er aus ihrer Sünde erretten will, durch die Kraft seines Wortes annimmt, wie es in der Schrift gegeben ist und aus ihr in mündlicher, schriftlicher und sakramentaler Gestalt dieses Wortes in das Leben seiner Hörer und Leser dringt. Er glaubte, dass Gott in der Kraft seines Wortes gegenwärtig ist und handelt und dass er die Menschen, die in der Sünde tot sind, durch die Verheißung des Lebens in Christus neu erschafft. Da Gott für die Wittenberger Theologen ein Gott des Gesprächs und der Gemeinschaft war, betonte Melanchthon, dass die Heilige Schrift allein, als die autoritative Form des Wortes Gottes, die letztgültige Autorität im Leben der Kirche darstelle, das letztgültige Lehramt der Kirche, im Zentrum ihres Lebens. Daneben gestand er aber auch durchaus zu, dass es in der Kirche immer sekundäre Autoritäten gegeben habe, zur Vermittlung der biblischen Botschaft an das Volk Gottes. Die Kirchenväter, Konzilien und Bischöfe waren im Mittelalter solche Autoritäten gewesen.

Nach 1530 entwickelte sich bei den Lutheranern allmählich eine Akzeptanz der Confessio Augustana, des Augsburgischen Bekenntnisses, als einer Auslegung der altkirchlichen Bekenntnisse, und anderer, als „Wiederholung und Erklärung“ des Augsburgischen Bekenntnisses eingestufter Dokumente, die 1580 im Konkordienbuch zusammengefasst und als gültige sekundäre Autoritäten anerkannt wurden. Von der Mitte des 17. Jahrhunderts an wurden diese Bekenntnisschriften bei den Lutheranern als norma normata bezeichnet. Die lutherische Kirche in ihrem Selbstverständnis als eine Kirche, die der Welt das Wort Gottes in ihrem Glaubensbekenntnis vermittelt, gründet sich auf Augsburg. Hier legte Melanchthon vor dem Kaiser und den dort versammelten Repräsentanten des Deutschen Reiches eine Erklärung dazu vor, was die Reformation Luthers für die Kirche bedeutete. Dieser Erklärung gab er den Titel Confessio.

Fragt man danach, was es heißt, ein Lutheraner zu sein, dann wird bei den meisten Antworten der Name Martin Luthers auftauchen, der unter den nicht wenigen Reformatoren der „erfolgreichste“ war, zum Teil da seine Botschaft den Bedürfnissen seiner Hörer entsprach, zum Teil auch deswegen weil sein Denken sich in den Jahren 1517 – 1518 und danach mit unglaublicher Geschwindigkeit in Deutschland und darüber hinaus verbreitete. Dabei spielte auch die eher als Zufall zu bezeichnende Gleichzeitigkeit mit der Erfindung Johannes Gutenbergs eine Rolle – sie lag zwar zu der Zeit schon mehr als ein halbes Jahrhundert zurück, die in ihr schlummernden Möglichkeiten waren aber bis dahin weder erkannt noch verwirklicht worden. Die Verbreitung des Wittenberger Rufs nach Reform durch die Möglichkeiten des Druckens mit beweglichen Lettern kann nicht überschätzt werden. Zweifellos hat dieses Medium die Art und Weise, wie Luther und seine Kollegen ihre Botschaft formulierten und kommunizierten, ja, wie sie ihr Denken in die Tat umsetzten, beeinflusst.

Ungeachtet jedoch der Bedeutung, die die Person Luthers für die lutherische Identität hatte und hat, berufen lutherische Kirchen sich für ihr Selbstverständnis auf Dokumente, die sie als „Bekenntnisschriften“ bezeichnen. Einige dieser Kirchen, wie zu Beispiel in Tschechien, Polen und der Slowakei, tragen sogar in ihrem Namen „Evangelische Kirche Augsburgischen Bekenntnisses“ den Schlüsselbegriff, durch den lutherischer Glaube, Lehre und Bekenntnis seit fast fünfhundert Jahren bestimmt werden.

Vor dem von Kaiser Karl V. im Frühjahr 1530 einberufenen Reichstag trat Melanchthon im Auftrag der Fürsten und Regierungen auf, die die Reformation nach Wittenbergischem Muster eingeführt hatten.2 Melanchthon hatte erwartet, dass die Erklärung mündlich vorgetragen werden sollte, durch Christian Beyer, den Vize-Kanzler in der kursächsischen Regierung, die die evangelischen Fürsten und Städte anführte. Doch gab er der Rede, die er für Beyer geschrieben hatte, nicht den Titel einer „Erklärung“. Ursprünglich hatte er sie als „Apologie“, d.h. „Verteidigungsschrift“ bezeichnen wollen.3 Dann zeigte sich aber, dass sich die Lage für seine Schrift durch die Propaganda von römisch-katholischer Seite geändert hatte. Johann Eck, Professor in Ingolstadt und vielleicht der Hauptgegner Luthers und seiner Kollegen, hatte es sich zum Ziel gesetzt zu zeigen, dass die Wittenberger Theologen Ketzer seien und aus der christlichen Kirche ausgeschlossen und aus der christlichen Gesellschaft ausgestoßen werden müssten. Hierzu forderte er die Lutheraner zu einer Disputation heraus, die nach den vorgelegten Thesen den Titel „Vierhundertundvier Artikel“ hatte – kurze Sätze in Thesenform, mit Zitaten aus den Schriften von Wittenberger Theologen, in denen sich deren Ansichten einigermaßen zutreffend widerspiegelten, ergänzt durch ungenaue Zitierungen oder aus dem Kontext gerissene Zitate, die ihnen zugeschrieben wurden, bis hin zu Zitaten anderer, mit denen Luther und Melanchthon nicht übereinstimmten, „Sacramentierer“, „Wiedertäufer“ und ähnliche Gruppierungen.4 In diesem Gemisch aus Wahrheit und falschen Unterstellungen erschien die Wittenberger Reformation in einem Licht, wie es schlechter kaum sein konnte. Den Anschuldigungen musste widersprochen werden. Mehr war jetzt gefordert als eine bloße Verteidigung lutherischer Reformen. Was Melanchthon jetzt tun musste, war, zu zeigen, dass die Wittenbergische Lehre auf der Schrift beruhte und in der Tradition katholischer Lehre seit der Zeit der alten Kirche stand. Melanchthon formulierte seinen Text für Beyer um und gab ihm den neuen Titel Confessio, „Bekenntnis“.

Noch nie zuvor in der Geschichte der Kirche war dieses Wort, in seiner substantivischen Form, verwendet worden, um die Summe der kirchlichen Lehren zu bezeichnen. Im mittelalterlichen Latein hießen die Mönche und Priester, die im Bußsakrament die Beichte, das Sündenbekenntnis, hörten, confessores, und die Worte confessio und confiteri gehörten zum Bekenntnis der Sünden oder zum Lobpreis, zum Bekennen der Herrlichkeit. Das Sprechen des Credos konnte ein Akt des Bekennens sein, wie dies auch für das Sterben um des Glaubens willen galt.5 Vor 1530 taucht das Substantiv „Bekenntnis“ aber nicht als Terminus und auch nicht als Titel im Zusammenhang mit einer offiziellen Erklärung der Kirche oder ihrer Lehre und kirchlicher Praxis auf. Heinrich Denzingers gesammelte Dokumente der Kirche zum christlichen Glauben zeigen, dass solche Aussagen meist unter Bezeichnungen wie symbola, canones, decreta und constitutiones liefen. Formale Erklärungen von Päpsten hatten oft den Titel epistolae. Denzinger und die Herausgeber, die sein Werk fortgeführt haben, haben jedoch die auf Melanchthons Titel von 1530 zurückgehende Verwendung aufgegriffen, indem sie diese Dokumente als „Glaubensbekenntnisse“ bezeichnen.6 Das heißt jedoch nicht, dass das, was Bischöfe und Konzilien mit der Veröffentlichung von Dokumenten zur offiziellen Lehre taten, nicht als „bekennen“ bezeichnet worden wäre. Häufiger jedoch wurden für „glauben“ Worte wie „credo / credimus / Image verwendet, die Glaubenssätze der iberischen Regionalsynode von 676 und 693 beginnen jedoch mit der Formulierung „confitemur et credimus“ bzw. „credimus et confitemur“, wodurch glauben und bekennen gleichgesetzt werden (und damit implizit „Credo“ und „Bekenntnis“).7 Im Brief Papst Leos II., mit dem die Beschlüsse des Dritten Konzils von Konstantinopel (681) bestätigt werden, ist die Zustimmung zu den Lehren ausgedrückt mit den Worten: „[diese Synode] … bekannte in voller Übereinstimmung mit uns …“8 Dieses Wort „bekennen“ oder das Synonym „sich bekennen zu“ taucht in den folgenden Jahrhunderten in ähnlichen öffentlichen Lehrsätzen immer wieder auf.9 Das Wort „confiteri“ wurde also durchaus verwendet zu Beschreibung dessen, um was es bei einem offiziellen dogmatischen Dekret ging, es kam aber nicht in der Überschrift oder in der formalen Bezeichnung vor. Melanchthon hat damit, dass er Gott und den Menschen von dem her dachte, was Gott zu seinem Volk gesagt hat und auf welche Weise sie auf dieses von ihm begonnene Gespräch reagieren, eine neue christliche literarische Gattung geschaffen, eine neue Bezeichnung für das, was man unter öffentlicher Lehre versteht und damit unter Kirche.10

Peter Fraenkel zufolge verwendete Melanchthon Wörter wie doctrina, traditio und ministerium als substantivische Verbformen – Substantive mit Substanz in ihrer inhaltlichen Bedeutung, die jedoch nicht existieren können, ohne in Handlung umgesetzt zu werden. Sein Gebrauch von confessio entspricht diesem Prinzip. Melanchthon war überzeugt davon, dass das, was in seiner Augsburgischen Konfession schriftlich festgehalten war, von vitaler, von lebensspendender Bedeutung war, da es Gottes Werkzeug war zur Vergebung der Sünden und zur Wiedereinsetzung der Sünder in ihr Menschsein als Kinder Gottes. Darüber hinaus glaubte er aber auch, dass der hier ausgesprochene Inhalt den Akt des öffentlichen Bekennens erforderte.11 Dem Inhalt eignet ein verbaler Impuls, der kraftvoll hervorbricht und sich nicht auf die Buchseite bannen lässt. Dieses Sprachverständnis war Luther ganz selbstverständlich, kam er doch von der Ockhamistischen Sprachtheorie her. Dass Melanchthon dieses Verständnis des gedruckten Textes selbstverständlich war, zeigt sich daran, dass die gedruckte Seite oft den Regeln der mündlichen Kommunikation entsprach, in den Texten zu Dialektik und Rhetorik schriftlich festgehalten.12

Dem Augsburgischen „Bekenntnis“ ging im Abstand von einem Jahr ein ähnlicher öffentlicher Akt voraus, in dem die evangelischen Fürsten und Städte ihren Glauben bekannten. Auf dem Reichstag zu Speyer hatten sie ihre Reformen verteidigt und dies als protestatio bezeichnet. Protestare diente in der Rechtsterminologie zur Bezeichnung des formalen und öffentlichen Aktes der Deklaration der eigenen Position, nicht als Protest, sondern als Bezeugen oder öffentliche Aussagen des Glaubens oder einer Handlung, die Erklärung oder Begründung einer Entscheidung oder eines Vorgehens.13 In Augsburg mussten die Fürsten und Städte diesen Schritt rechtfertigen, der schon den kaiserlichen Bannstrahl auf dich gezogen hatte.

Vize-Kanzler Beyer verlas den Text, den Melanchthon in Deutsch vorgelegt hatte, vor den versammelten Fürsten und Vertretern der Städte und dem Kaiser, dem er dann in Latein und in Deutsch überreicht wurde. Karl V. hatte jegliche evangelische Predigt in der Stadt, solange der Reichstag dort tagte, verboten, aber Luther meinte, dass Beyer dieses Verbot bei weitem wett gemacht habe: „Ita nostra confessio et Apologia in summa Gloria est aedita. … Quia verbum dei inuulgatum est contra omnium hominum, Caesaris, Papae, Epicureorum opinionem. Si wollten es dempfen, so gieng es auff vnd an.“ [„Unser Bekenntnis oder Verteidigung war auf die herrlichste Art verfasst … denn es legte öffentlich Zeugnis ab von Gottes Wort gegenüber jedermann, den Meinungen von Kaiser, Papst und Epikuräern. Sie wollten sein Wort unterdrücken, so ging es hin und her.“]14 Melanchthons Worte hallten aber nicht nur in den Straßen und auf den Plätzen von Augsburg wider. Luther zufolge, „Tanta verbi Dei est efficacia et virtus, ut, quo plus persecutionis habeat, eo plus floreat et crescat. Considerentur comitia Augustana, quae vere sunt ultima tuba ante extremum diem. Quomodo aestuabat totus mundus contra verbum! O, wie musten wir dazu bitten, das Christus im hiemel vorn papisten sycher blieb! Tandem nostra doctrina et fides ita prodiit in lucem per confessionem nostram, ut brevissimo tempore mandato etiam caesaris ad mones reges et principes mitteretur; ibi multa praeclarissimorum virorum ingenia in aulis fuerunt, die fingen diese lehre wie ein zunder et postea ubique incendebant. Ita nostra confessio et apologia cum summa Gloria in lucem edita est, et illorum confutatio in tenebris sordescit.“15 Und so bezeichnete der mit Luther befreundete Georg Spalatin das Augsburger Bekenntnis als „das bedeutendste Ereignis, das es jemals auf Erden gegeben hat“16 – eine Meinung, die von nicht wenigen von Luthers und Melanchthons Schülern geteilt wurde.17

Nach Augsburg im Jahr 1530 schlossen sich anglikanische und reformierte Gläubige diesem lutherischen Verständnis an und definierten ihre Kirche in einer Bekenntnisschrift.18 Nur wenige Tage, nachdem Melanchthons Schrift vorgetragen worden war, überreichten vier süddeutsche Städte dem Kaiser ihr eigenes „Bekenntnis“, die „Confessio Tetrapolitana“.19 Und in nur wenigen Jahren hatten andere, die sich der Reformation angeschlossen hatten, Bekenntnisse verfasst, so beispielsweise die Stadt Basel 1534, oder das „Erste Helvetische Bekenntnis“, 1536 von einem Zusammenschluss der Schweizerischen Kirchen verfasst, um die Lehre dieser Kirchen auf dem vom Papst einberufenen Konzil vorzutragen.20 Im 20. Jahrhundert änderte ein moderner Vertreter der Anabaptisten den Titel der „Schleitheimer Artikel“ von 1528, eines der frühesten Dokumente des baptistischen Glaubens, ab in „Schleitheimer Bekenntnis“.21 Nachdem den Anhängern der Confessio Augustana im Augsburger Religionsfrieden von 1555 ein legaler, wenn auch niederer politischer Status zuerkannt worden war, entwickelte sich später, im Deutschen Reich im 19. Jahrhundert, die Bezeichnung „Konfession“ zur Unterscheidung der verschiedenen Kirchen; sogar bei den Katholiken wurde die Papstkirche als „Konfession“ bezeichnet, obwohl es keine Dokumente mit einem Titel „Confessio“, anstelle von „Canones“ oder „Dekret“, zur Bestimmung der römischen Kirche, ihrer Lehre und ihrer Praxis gibt.22

In den ersten Berichten über den Reichstag zu Augsburg aus lutherischer Feder, in denen das „Augsburgische Bekenntnis“ auftaucht, bezieht sich dieses Wort auf die gesamten Bemühungen, das lutherische Glaubensverständnis darzustellen; dies zog sich über mehrere Monate hin, in deren Verlauf Melanchthon und andere mit ihm den Text bearbeiteten und ihr Bekenntnis sowohl römisch–katholischen Theologen als auch weltlich politischen Beauftragten des Reichstages im Rahmen langwieriger Verhandlungen erläuterten. Nach und nach verschob sich dann bei ihnen die Bedeutung von confessio oder „Bekenntnis“ immer mehr auf das tatsächliche Vortragen des Textes als eines öffentlichen Bekenntnisses der sieben Fürsten und zwei Städte vor dem versammelten Reichstag. Und schließlich, seit den vierziger Jahren und eindeutig in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, bezog sich der Terminus „Augsburgisches Bekenntnis“ meist und dann ausschließlich auf das Dokument als solches.23

Die Wittenberger Theologen konnten nicht ahnen, wie prägend die Formulierung eines öffentlichen Bekenntnisses zur Bestimmung der Kirche für das kirchliche Leben werden sollte. Denn im Zeitraum von zehn Jahren ging die Funktion, die zuvor bei Bischöfen und Konzilien gelegen hatte als für Formulierung und Beurteilung kirchlicher Lehre und kirchlichen Lebens Zuständige, auf dieses Dokument über. Melanchthon und seine Kollegen hatten in Augsburg nichts weiter beabsichtigt, als – in den ersten 21 Artikeln des Bekenntnisses – die lutherische Lehre und – in den letzten sieben – die Auswirkungen für kirchliches Leben – zu verteidigen, zu erklären und zu rechtfertigen. Der Erweis der rechten Anwendung musste sich aus der Schrift und aus der rechten Seelsorge ergeben. In den folgenden zehn Jahren wurde das Augsburgische Bekenntnis zur anerkannten sekundären Autorität, „summarischer Begriff, Regel und Richtschnur“ und eine Erklärung, „nach welcher alle Lehr geurteilet, und die eingefallenen Irrungen christlich erkläret und entschieden werden sollen“ – so die Erklärung der Verfasser der Konkordienformel 1577 zur Funktion dieses Dokuments.24 Dies zeigt sich daran, dass die Formulierung des Bekenntnisses nicht als abgeschlossener, definitiver Text betrachtet wurde, sondern als ein Arbeitstext, der geändert werden konnte, wenn es der Sache dienlich sein sollte, nämlich der Rechtfertigung der Existenz lutherischer Kirchen im Reich. Als Kurfürst Johann Friedrich der Ältere Melanchthon beauftragte, den Text für weitere Verhandlungen mit der katholischen Seite im Zusammenhang mit dem vom Kaiser zum Ende der dreißiger Jahre einberufenen Religionsgespräch umzuschreiben, ging dieser davon aus, dass das Bekenntnis, als Verhandlungstext der Fürsten und nicht sein eigenes Werk, entsprechend den Notwendigkeiten, für die es geschrieben worden war, und zurückgehend auf die, die ihr Leben unter Berufung auf das Bekenntnis aufs Spiel gesetzt hatten, geändert werden könne. Dass Calvinisten in späteren Jahren die Variata der Confessio für ihre ganz eigenen politischen Absichten gebrauchen sollten, konnte sich 1540 niemand von den Wittenbergern vorstellen. Niemand bezweifelte, dass es Melanchthons Recht wie auch Pflicht sei, den Text zu revidieren, Luther und die anderen Wittenberger Theologen benutzten den revidierten Text. In den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts betrachtete man das „Augsburgische Bekenntnis“ nicht nur als ein Dokument, sondern als einen sich in Entwicklung befindenden Prozess. In den sechziger Jahren änderte sich die Lage durch die calvinistische Berufung auf den Text der Variata und durch die Debatte darüber, was der gültige Text des Augsburgischen Bekenntnisses sei. 1561 – nach dem Augsburger Religionsfrieden mit der Festschreibung des Augsburgischen Bekenntnisses als Richtschnur für politische und gesellschaftliche Legalität – hat sich das Verständnis von dem, was ein Bekenntnis ist, verändert, wie sich an der Weiterentwicklung dieser Vorstellung in den reformierten Kirchen zeigte. Ihre Bekenntnisse hatten in vielen Fällen keinerlei Bezug zu irgendwelchen Aussichten, dass ihnen von Regierungsseite, z.B. in Frankreich oder in den Niederlanden, politisch-rechtliche Bedeutung zugestanden würde; nichts desto trotz hatten sie Bedeutung als das Gesetz, nach dem die Lehre in der Kirche sich auszurichten hatte. Reformierte Bekenntnisse hatten zudem, auch wenn sie als sekundäre Autorität und als Anleitung zur Schriftauslegung anerkannt waren, keine Autorität vergleichbar mit der „lebendigen Stimme des Evangeliums“. Das heißt, ihre Autorität basierte darauf, dass sie in menschlichen Worten die Offenbarung Gottes beschrieben, und nicht – wie die Lutheraner die Bekenntnisse verstanden – als Werkzeug, das der Heilige Geist durch die Schrift einsetzt, um die Gläubigen anzuleiten und zu bevollmächtigen, sein Wort zu verkündigen.

In den späten dreißiger und in den vierziger Jahren knüpften sich noch andere Erwartungen an das Augsburgische Bekenntnis. Sowohl die Pfarrer als auch die Fürsten brauchten eine allgemein akzeptierte Übereinkunft, was Lehre und Verwaltung in der Kirche betraf, einen klaren, einheitlichen und einfachen Standard für den öffentlichen Unterricht, einen Überblick über das, was die Bibel sagt und lehrt, als verbindliche Richtlinie und Norm all dessen, was mit Kirche zu tun hat. So wurde das Augsburgische Bekenntnis schon bald zu einem öffentlichen Dokument, das die meisten deutschen Territorialkirchen übernahmen, wie auch zu einem symbolon, einer „Missionsaussage“ für die Kirche und zu einem öffentlichen Bekenntnis dessen, was zu verkündigen sei. Bei Irenaeus wird ein solcher Standard als „Glaubensgrundsatz“ bezeichnet, von sekundärer Autorität, der in sich den in der Schrift gegebenen, für die öffentliche Verkündigung des Evangeliums wesentlichen Inhalt, umfasst. Anfang der dreißiger Jahre kam bei den Wittenberger Theologen für solch eine analogia fidei die Bezeichnung corpus doctrinae, Lehrwerk, auf. Das Augsburgische Bekenntnis und danach die Apologie und weitere Schriften wie etwa Luthers Schmalkaldische Artikel wurden im Lauf der folgenden Jahrzehnte in einer Reihe lutherischer Territorien als Teile eines solchen Corpus der biblischen Lehre anerkannt.25

Durch den Augsburger Religionsfrieden von 1555 wurde die Funktion des Augsburgischen Bekenntnisses ausgeweitet.26 Es erhielt definitiven Status im Reichsgesetz, von entscheidender Bedeutung in der Verfassung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. So wurde es zum allgemeinen – von der Regierung anerkannten – Standard bei der Zulassung für das Pfarramt und öffentliche Ämter, zum offiziellen Instrument zur Bewertung von Lehre und Bekenntnis in der Kirche.

Die Augsburgische Konfession ist ein kurzes Schriftstück. Auf die veränderte Lage reagierte man mit hinzugefügten Kommentaren bzw. mit „Wiederholung“, wie die Verfasser dieser Kommentare aus dem späteren 16. Jahrhundert dies bezeichneten. Der erste dieser Kommentare, Melanchthons Apologie von 1531, stammt aus der Feder des ursprünglichen Verfassers selber, der zweite war 1550 das Magdeburger Bekenntnis, und dann folgten in den nächsten zwei Jahrzehnten, in verschiedenen Teilen des Reiches und darüber hinaus, mehrere solcher „Wiederholungen“27 und schließlich 1577 – in offizieller Form von vielen der lutherischen Kirchen angenommen – die Konkordienformel.28 Zu dem Zeitpunkt hatte eine Reihe von Kirchen auch die Schmalkaldischen Artikel übernommen wie auch die Schrift über Gewalt und Obrigkeit des Papstes und Luthers Großen und Kleinen Katechismus, als Norm für die öffentliche Lehre. All diese Schriften wurden gesammelt und wurden zusammen oft als corpora doctrinae, bzw. als „die Bekenntnisschriften“ bezeichnet und lieferten die umfassende Definition von Kirche in den einzelnen Ländern und für die Anhänger der Augsburgischen Konfession im gesamten Deutschen Reich und darüber hinaus.29

Dies ist der Kontext, in dem die Konkordienformel entstand, wie weiter unten zu sehen sein wird. Die Konkordienformel unterscheidet sich insofern von den anderen Schriften im Konkordienbuch, als ihr explizites Ziel darin besteht, die Einheit unter den lutherischen Kirchen in Deutschland herzustellen; im Unterschied zu den anderen Schriften ist sie nicht an die abendländische Kirche als ganze gerichtet (wie das bei der Augsburgischen Konfession, der Apologie, den Schmalkaldischen Artikeln und der Schrift über die Gewalt und Obrigkeit des Papstes der Fall ist), und sie ist auch keine Anleitung zur Frömmigkeit für das Volk Gottes (wie Luthers Großer und Kleiner Katechismus). Insbesondere ihre Solida Declaratio geht viel mehr ins Detail, hier geht es um spezifische Fragen und Themen aus den Debatten, die sich im dritten Viertel des 16. Jahrhunderts unter den Erben Luthers und Melanchthons um die richtige Interpretation des Augsburgischen Bekenntnisses und der Bibel entspannen. Die ökumenische Blickrichtung der Verfasser der Konkordienformel stand allerdings einer Lösung der Probleme in ihrem eigenen Kreis eher im Wege, ungeachtet der breiteren Diskussion der biblischen Lehre. Bei der Behandlung der Rechtfertigung in Artikel III wurde die Position der römisch-katholischen Kirche, wie sie in Trient verhandelt wurde, mit berücksichtigt wie auch Andreas Osianders Lehre;30 bei Abendmahl und Christologie in den Artikeln VII–IX ging es um die Auseinandersetzung mit der Zwinglischen und daran anschließender Schweizer Theologie zu den Sakramenten wie auch derjenigen der „hinterlistigen Sakramentierer“ im eigenen Lande; und Artikel XII befasste sich mit einer ganzen Reihe von Häresien, von den Wiedertäufern, Geisttäufern und Antitrinitariern, in einer nachgebesserten Version dessen, was mit dem Augsburgischen Bekenntnis versucht worden war, nämlich einer Abgrenzung des Wittenberger Glaubensbekenntnisses von mittelalterlichen und zeitgenössischen sektiererischen Reformversuchen.31 Während der unmittelbare Kontext sich bestimmend auf den Aufbau einer lutherischen analogia fidei auswirkte, konnte ein solches Corpus doctrinae für den Wittenberger Kreis nicht unabhängig von dem umfassenderen Kontext der theologischen Diskussion und seines politischen und gesellschaftlichen Rahmens existieren.

Auch wenn sie die Funktion eines Corpus doctrinae, eines Lehrwerkes hatte, entschied man sich doch, in der Tradition der öffentlichen Beilegung von Streitfragen, die mindestens bis in die 1530er Jahre zurückreicht, für „Konkordienformel“ als Titel. Im mittelalterlichen Latein wurde der Begriff concordia zur Bezeichnung eines pactus oder foedus verwendet, einer Übereinkunft, die sowohl auf Harmonie als auch auf Verständigung im Allgemeinen abzielte. So war das Wort auch 1534 verwendet worden, als sich bei der Einführung der Reformation in Württemberg durchaus gegensätzliche theologische Parteien zusammenfanden und Erhard Schnepf und Ambrosius Blarer in der „Stuttgarter Concordie“ zu einer Einigung über das Abendmahl gelangten. Als Melanchthon 1536 den Entwurf einer Schrift zum Abendmahl verfertigte, den sowohl die Straßburger Theologen mit Martin Bucer, als auch die Wittenberger Theologen mit Martin Luther annehmen konnten, gab er ihr den Titel Concordia. So erschien dieses Wort dann auch für den Titel von 1577 angemessen.

Die Notwendigkeit zur Herstellung von Harmonie – Übereinstimmung – unter den lutherischen Theologen in Deutschland ergab sich aus Streit, der im Kreis der Wittenberger, übereinstimmend mit Luthers Denken, auf die Angriffe des Teufels auf Gott und Gottes Wahrheit zurückgeführt und damit als unvermeidlich zum kirchlichen Leben gehörend angesehen wurde.32 Diese Lutheraner glaubten, dass Glaubensbekenntnisse in jeder neuen Zeit kirchlicher Lehre durch die besonderen Umstände eben dieses Konfliktes geformt werden. In dem vorliegenden Band soll versucht werden, den Leser mit dem derzeitigen Stand historischer Forschung zu dieser Geschichtsepoche bekannt zu machen, ebenso wie mit den Streitfragen und den Lösungen, wie die Konkordienformel sie als Bekenntnis zusammenfasst, um das, was sie lehrt, verstehen zu helfen.

Jetzt, da lutherische Kirchen weltweit über ihre eigenen Aufgaben nachdenken und ihre Identität am Beginn des 21. Jahrhunderts neu in den Blick nehmen, hat die Konkordienformel einen bedeutenden Beitrag an historischer Erinnerung zu leisten, was sich prägend und gestaltend auf jedes weitere Glaubensbekenntnis im Angesicht der Welt und der gesamten Kirche gegenüber auswirkt. Denen, die nicht der lutherischen Konfession angehören, mag der hier vorgestellte kurze Überblick insofern nützlich sein, als sie hier eine Stimme hören, die seit mehr als vierhundert Jahren Zeugnis ablegt für die biblische Botschaft. Für die gesamte Kirche im 21. Jahrhundert bietet sich hiermit die Möglichkeit, diese Botschaft neu zu übersetzen und zu verorten, um das Evangelium von Jesus Christus in der unserer Zeit angemessenen Sprache weiter zu sagen.

1 Ninian Smart, Worldviews. Cross Cultural Explorations of Human Beliefs, New York 1983, 62–158.

2 Zum Folgenden siehe Robert Kolb, „Confessing the Faith, the Wittenberg Way of Life“, Tidsskrift for teologi og kirke, 80 (2009), 247–265.

3 BSLK, XVI–XVII.

4 […] Articulos 404. Partim ad disputationes Lipsicam, Baden. & Bernen. attinentes, partim vero ex scriptis pacem ecclesiae perturbantium extractos, Coram diuo Caesare Carolo V. Ro. Imp. Semper Augu. Ec. Ac. Proceribus Imperii […] (Ingolstadt, 1539); hg. von Wilhelm Gussmann, D. Johann Ecks Vierhundertundvier Artikel zum Reichstag von Augsburg 1530, Kassel 1930.

5 Thesavrvs Lingvae Latinae (Leipzig: Teubner, 1906–1909), 4, 188–192, 230–233; Mediae Latinitatis Lexicon Minus, hg. von J. F. Niermeyer, C. van de Kieft und J. W. J. Burgers, Darmstadt 2002, 1, 318, 320.

6 Henrici Denzinger, Enchiridion symbolorum definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, hg. von Peter Hünermann, Freiburg/Breisgau 37 1991, Titelseite und passim. Im engl.-sprachigen Equivalent des Denzinger zeigt sich das nicht; vgl. Decrees of the Ecumenical Councils, hg. von Norman P. Tanner SJ, Bd. II, Trent to Vatican II, London/Washington, D.C. 1990.

7 A.a.O., 241 und 265.

8 A.a.O., 260 §561: „atque concorditer nobiscum confessa est: …“

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